Bürgerlicher Moralcodex und Frauenbild

Das gesellschaftliche Bild der Frau erlebte vom 17. bis ins 19. Jahrhundert einen fundamentalen Wandel, im Zuge dessen die Frau aus der öffentlichen Gesellschaft gänzlich verbannt wurde, während der Mann gerade durch seine auf den gesellschaftlichen Aufbau ausgerichtete Tätigkeit definiert wurde:
"Das Weib hat die Bestimmung der Mutterschaft, der Ernährung [...], der Pflege und Behütung des Kindes, der Sorge für dessen gesunde, körperliche Entwicklung und für die Erziehung der geistigen und sittlichen Anlagen. [...] Für diese erhabene Bestimmung des Weibes natürlich und seelisch ausgerüstet; alle seine leiblichen und seelischen Anlagen und Neigungen beziehen sich auf dieses Verhältnis der Mutter zum Kinde [...] Der Mann hat andere Ziele und Pflichten, deshalb auch andere Anlagen; des Weibes Leben ist die Familie, des Mannes Leben ist die Welt."
Für den bürgerlichen Mann traten nun Attribute wie Intelligenz, Tüchtigkeit, Unternehmergeist in den Vordergrund. Der Frau hingegen wurde Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Dankbarkeit, Hingabe, Liebenswürdigkeit, Bescheidenheit, Demut, Keuschheit, Selbstaufopferung und bedingungslose Treue ihrem Gatten gegenüber zugeschrieben.
Seit dem 18. Jahrhundert hatte sich zudem eine Trennung von Arbeits- und Wohnbereich vollzogen: Der Arbeitsbereich der Männer war nicht mehr die Werkstätte im eigenen Haus, sondern meistens ein mehr oder wenig entfernter Betrieb. Als Folge vollzog sich eine starke Privatisierung des Wohnbereichs. Der Frau fiel nun die Rolle zu, dem Mann, der müde von der entfernten Arbeit nach Hause kam, ein wohliges häusliches Refugium zu bieten, doch damit, dass sie die Arbeit des Mannes nicht mehr aktiv unterstützen konnte, war die Frau gleichzeitig aus dem öffentlichen Teil des bürgerlichen Daseins ausgeschlossen und in den Privatbereich verbannt.
Die Verbannung aus dem öffentlichen Leben erfolgte auf breiter Ebene: Ulrike Döcker zeigt in ihrer Arbeit "Die Ordnung der bürgerlichen Welt", von den sexualpessimistischen und antiemanzipatorischen Rousseauisten ausgehend - insbesondere auch bei Adolph Knigge -, wie die in der Spätaufklärung einsetzende Rationalisierung der Weiblichkeit gleichzeitig einhergeht mit der Entsinnlichung der Frau. Im Zuge dieser Entwicklung wurden die Frauen - auch die gebildeten! -, die noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Salons verkehrten und damit am intellektuellen Geistesleben teilgenommen hatten, mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben verbannt: "Die bürgerlich-männlichen Aufklärer stilisierten die gelehrte und erotische Salonière bald zur femme terrible, zur Antipodin einer mulier domestica. Die Geschlechterethik der Spätaufklärung rückte vom Bild der kreatürlich-sinnlichen Frau (Eva) ab, das dem weiblichen Prinzip in früheren Jahrhunderten immanent gewesen war, und entsexualisierte das Weibliche. Eine entsexualisierte und ‚säkularisierte' weibliche Moral konnte, um ihre bedrohlichen Aspekte verringert, für die Versittlichung der Gesellschaft besser in Dienst genommen werden. In zahlreichen pädagogischen Schriften begannen die Aufklärer eine spezifische weibliche Ausbildung zu propagieren, die auf praktische Vernunft und moralische Integrität zielte."
Ebenso wie aus dem geistigen Leben wurden Frauen aus den politischen Bereichen ausgeschlossen und besonders seit der Revolution von 1848 systematisch verbannt. Aufgeschlossene Frauen hatten sich noch vor 1848 in politischen und demokratischen Frauenvereinen organisiert und waren auch - insbesondere in Wien - an den Barrikadenkämpfen der Revolution beteiligt. Mit der Niederschlagung der Revolution von 1848 werden jedoch gleichzeitig alle Ansätze einer beginnenden Frauenbewegung zunichte gemacht und 1850 wird das "Preussische Vereinsgesetz" erlassen, das Frauen grundsätzlich die Teilnahme an politischen Versammlungen untersagt.
Peter Gay zeigt in seiner Untersuchung "Erziehung der Sinne", in der er besonders die Sexualität und die Geschlechterbeziehung Mann-Frau im bürgerlichen Jahrhundert untersucht, eindrücklich, dass die Definition der Weiblichkeit und der Rolle der Frau eng verknüpft ist mit der gesamten bürgerlichen Selbstdefinition, insbesondere weil die Definition der weiblichen Sexualität auch als Fundament für die Definition der Ehe gilt. Um die neue - privat abgeschirmte - Rollenzuweisung der Frau zu rechtfertigen und zu untermauern, entbrannten im 19. Jahrhundert heftige Diskussionen rund um den Streitpunkt "Frau". Wohl in keinem anderen Jahrhundert wurde sie mit solcher Heftigkeit geführt wie im 19. Peter Gay formuliert treffend: "Dem bürgerlichen Jahrhundert wurde ‚das Weib' zum Problem."
Um die neue gesellschaftliche Stellung der Frau zu zementieren, wurden alle erdenklichen Argumentationsmuster aus Biologie, Moral und Philosophie herbeigezogen. Durch die zunehmend antimetaphysische Haltung der neuen Gesellschaftsentwicklung und den Drang zum Empirismus begann man sich in erster Linie auf die "Fakten" der Naturwissenschaften zu stützen.
Doch an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert hatte in der Kategorisierung der Geschlechter Mann-Frau eine grundlegende Änderung stattgefunden. War im 18. Jahrhundert die Stellung der Frau und ihre Rolle in der Gesellschaft noch aus kosmologischen und gesellschaftlichen Argumentationen heraus begründet worden, so begann man im 19. Jahrhundert auf der rein biologischen Ebene zu argumentieren. Thomas Laqueur spricht im Hinblick auf die gesellschaftliche Inszenierung der Weiblichkeit im 18. und 19. Jahrhundert von der Wandlung vom "Ein-Geschlechts-Modell" zum "Zwei-Geschlechts-Modell". Nach dem "Ein-Geschlechts-Modell" - so Laqueur - wurde die Lage der Ge­schlechtsteile als komplementär angesehen und die Vagina wurde als nach innen gelegter Penis definiert. Die Hierarchisierung wurde zwar anhand des vom männlichen Penis Abweichenden vorgenommen, doch stand noch nicht der wertende Unterschied im Vordergrund: "Ein Mann oder eine Frau zu sein, hiess während eines Gutteils des 17. Jahrhunderts eine soziale Stellung innezuhaben und eine kulturelle Rolle zu übernehmen; nicht je­doch, organisch das eine oder das andere zweier Geschlechter zu sein." Mit der bürgerlichen Gesellschaft beginnt sich nach Laqueur im 18. Jahrhundert ein "Zwei-Geschlechter-Modell" zu entwickeln, demzufolge Frau und Mann biologisch völlig different sind, was sich - daraus ableitbar - auch geistig ausdrückt.
Der Frau wurde durch ihre biologische Beschaffenheit die Rolle an der Seite des Mannes und - als geistig nicht so entwicklungsfähig wie der Mann - an Heim und Herd zugewiesen. Hierin leistete schon Jean-Jacques Rousseau in "Émile - oder über die Erziehung" Vorschub: "Sie [=die Frauen] müssen viel lernen, aber nur das, was zu wissen ihnen gemäss ist [...] So muss sich die ganze Erziehung der Frauen im Hinblick auf die Männer vollziehen. Ihnen gefallen, ihnen nützlich sein [...], für sie sorgen, sie beraten, sie trösten, ihnen ein angenehmes und süsses Dasein bereiten: Das sind die Pflichten der Frauen zu allen Zeiten, das ist es, was man sie von Kindheit an lehren muss."
Einmal mehr erklärt auch Laqueur - wie schon Peter Gay - die Problematik der Geschlechterdefinition und die weibliche Rollenzuweisung in der durch die Aufklärung veränderten Gesellschaft und ihrer zahlreichen Angstreaktionen: "Der Kontext für die Artikulierung zweier inkommensurabler Geschlechter war jedoch weder eine Theorie des Wissens noch Zuwachs an wissenschaftlichen Erkenntnissen. Der Kontext war die Politik. In der gewaltig ausgeweiteten Öffentlichkeit des 18. und vor allem des postrevolutionären 19. Jahrhunderts gab es endlose neue Auseinandersetzungen um Macht und Rang: zwischen und unter Männern und Frauen, zwischen und unter Feministinnen und Antifeministen. Als aus vielerlei Gründen eine präexistente transzendentale Ordnung oder das seit unvordenklichen Zeiten Gültige zur immer weniger plausiblen Rechtfertigung für soziale Beziehungen wurde, verschob sich das Schlachtfeld für Geschlechterrollen zur Natur hin, zum biologischen Geschlecht. Unterschiedliche Sexualanatomie wurde herangezogen, um Aussagen jeglicher Art in einer Vielzahl spezifischer sozialer, ökonomischer, politischer, kultureller oder erotischer Kontexte zu untermauern oder abzuweisen."
Auf die zahlreichen philosophischen, medizinischen und moralischen, wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Arbeiten des 19. Jahrhunderts, die sich mit der Sexualität der Frau beschäftigen, kann hier nicht einzeln eingegangen werden. Peter Gay liefert aber im Kapitel "Das problematische Geschlecht" einen guten Überblick über die Entwicklung dieser heftigen Diskussion. Von der bürgerlichen Ehe-Frau wurde absolute Treue gefordert und im Kampf um die Rechtfertigung dieser Treue wurde auf medizinischer und philosophischer Ebene in heftigem Disput, der selbstverständlich nur von Männern geführt wurde, darum gerungen, ihr die Lust am sexuellen Akt abzusprechen. Den wenigen aufgeschlossenen Befürwortern des weiblichen Lustempfindens standen zahlreiche griesgrämige Stimmen entgegen, die der "gesunden" und "anständigen" Frau jegliche natürliche erotische Neigung untersagten und ihre Existenz negierten. Manche Stimmen gingen sogar soweit zu behaupten, die "gute" Frau lasse den Geschlechtsakt nur über sich ergehen; es sei ihr eigentlich etwas Unangenehmes und sie tue es nur, um ihrem Mann Freude zu bereiten.
Vor dem Hintergrund dieser Gesellschaftszwänge, in denen das Sprechen über Sexualität besonders der Frau ohnehin streng verboten war, erscheinen Dirnenlieder, in denen Frauen ihre Lust an der Sexualität offen ausdrücken, revolutionär - wenn auch als männliche Wunschvorstellung (Man denke hier zum Beispiel an Wedekinds "Ilse").
Während also von der Frau "unabdingbare Treue" gefordert wurde und die "gesunde" Frau keinen sexuellen Trieb empfinden - und schon gar nicht ausleben durfte! -, wurde mit den gleichen Argumentationsmustern der aussereheliche Geschlechtsverkehr der Männer gerechtfertigt. Hier ein Zitat aus der berühmten "Psychopathia Sexualis" von Dr. Richard Freiherr von Krafft-Ebing, die Mitte der 1880er Jahre erschienen ist und häufig neuaufgelegt wurde - wir zitieren nach der 80. Auflage: "Ist es [das Weib] geistig normal entwickelt und wohlerzogen, so ist sein sinnliches Verlangen ein geringes. Wäre dem nicht so, so müsste die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar sein. Je­denfalls sind der Mann, welcher das Weib flieht, und das Weib, welches dem Geschlechtsgenuss nachgeht, abnorme Erscheinungen."
Krafft-Ebings konservative Sexualmoral war in den Boheme-Kreisen wohl bekannt und gehörte in den Komplex der antibürgerlichen Feindbilder. Auch Wedekind hatte sich in seinen Pariser Jahren sehr eingehend mit Krafft-Ebings Sexualtheorie auseinandergesetzt. Dies wird deshalb für uns wesentlich, weil sich - insbesondere bei Wedekind - zeigt, dass seine Dirnendarstellungen alles andere als zufällige erotische männliche Wunschvorstellungen sind, sondern als Figuren aktiv im Hinblick auf die Diskussion um Weiblichkeit und Sexualität hin konzipiert sind.
Der unmoralische, männliche Don Juan-Typ wurde nach bürgerlicher Sexualmoral stillschweigend gebilligt, doch die Frau hatte die Moralität zu hüten: Mann und Frau wurden also auch auf moralischer Ebene mit unterschiedlicher Strenge betrachtet, wobei der Frau die unangenehme Rolle zufiel, die Moral zu wahren, während die sinnliche Unmoralität des Mannes als von Natur aus gegeben hingenommen wurde. Für die bürger­liche Tochter galt ihre Jungfräulichkeit als wesentlichstes Kapital, um in eine stan­desgleiche oder höhere Ehe zu treten. Für die jungen Ehemänner hingegen wurde all­gemein vorausgesetzt, dass sie mit genügend sexuellen Kenntnissen in den Ehebund eintraten und bereits über reiche Erfahrungen verfügten - es wurde ihnen sogar nahegelegt, sich vor der Ehe auszutoben, wobei auch das "Austoben" während der Ehe in still­schweigender Übereinkunft geduldet wurde, doch mit der Auflage, nicht allzu sehr damit aufzufallen.
Diesen Aspekt und die damit verbundene ungerechte Situation der bürgerlichen Ehefrauen hat besonders Christiane Koch untersucht in ihrer Dissertation "Wenn die Hochzeitsglocken läuten...". Sie zeigt darüber hinaus, dass besonders die Dienstmädchen prädestinierte Opfer ihrer bürgerlichen Hausherren und deren Söhne waren, da bei ihnen die Ansteckungsgefahr mit Geschlechtskrankheiten besonders gering schien. Wir werden im unteren Kapitel über die Prostitution im 19. Jahrhundert auf diesen Punkt zurückkom-men.
Freud sah in vielen seiner Patienten und insbesondere den Patientinnen den Beweis, dass die bürgerliche Moral den Sexualtrieb über alle Massen gezügelt hatte, und erklärte auch, dass gerade diese auferlegte Sexualmoral nicht funktionieren könne: "Die für den Mann in unserer Gesellschaft geltende ‚doppelte' Sexualmoral ist das beste Eingeständnis, dass die Gesellschaft selbst, welche die Vorschriften erlassen hat, nicht an deren Durchführbarkeit glaubt."
Die sexuelle Ventilfunktion, die dem Mann in der Form der Prostitution zugestanden wurde, gab es bei der Frau nicht. Sie hatte treu zu sein. Anstelle des Sexualtriebs sprach man ihr dafür umso mehr die Liebe zu den Kindern und zu ihrem Mann zu - als Ersatz sozusagen.
Dass die Treue der Frau im Gegensatz zur Treue des Mannes unabdingbar war, führt Karin Lützen auf Folgendes zurück: "Für das Bürgertum als Gesellschaftsklasse war das Recht auf Privateigentum ein wichtiger Punkt, und für die Männer war es deshalb eine wichtige Forderung, dass die Kinder, die ihr Erbe weiterführen sollten, auch tatsächlich ihre eigenen waren. Die Tugend ihrer Gattin war dabei eine unerlässliche Bedingung..."
Wenn eine Frau untreu war, wurde sie sofort aus der "ehrbaren" Gesellschaft ausgestossen, aber ihre Untreue fiel auch auf den Mann zurück und gab ihn der allgemeinen Lächerlichkeit preis. Unter dem Motto des Verdrängens legte sich im bürgerlichen 19. Jahrhundert systematisch der Mantel des Schweigens über den gesamten Bereich der Sexualität. Stefan Zweig schreibt rückblickend in seiner "Welt von gestern": "War die Sexualität schon nicht aus der Welt zu schaffen, so sollte sie wenigstens innerhalb ihrer Welt der Sitte nicht sichtbar sein. Es wurde also die stillschweigende Vereinbarung getroffen, den ganzen ärgerlichen Komplex weder in der Schule noch in der Familie noch in der Öf­fentlichkeit zu erörtern und alles zu unterdrücken, was an sein Vorhandensein erinnern könnte."
Im Zuge dieser Verdrängung begann man auch sprachlich die weibliche Sexualität und Körperlichkeit zu sublimieren. Eine Dame hatte nun plötzlich keine Schenkel und keine Waden mehr, sondern nur noch "Beine", Brust und Busen hiessen nun "Hals", der Bauch beschränkte sich auf "Magen" und wenn eine Frau dann endlich auf dem Weg zur Idealfrau als Mutter war, nannte man das nicht mehr "schwanger" sondern "guter Hoffnung" oder "in anderen Umständen".
Ulrike Döcker weist anhand der Manierenliteratur des 19. Jahrhunderts nach, dass aus dem sittlich-bürgerlichen Denken der Körper der Frau praktisch gänzlich verschwindet. Sie wird zur körperlosen Heiligen. Gehen die Benimm-Bücher sehr wohl auf die ge­zogenen körperlichen Gesten und Bewegungen der Männer ein und geben Ratschläge, wie der Mann von Welt Beine, Arme und Hände zu bewegen hat, wird auf die körperliche Gestik der Frau viel weniger eingegangen als auf die der Männer. (Das Übereinander­schlagen der Beine oder das Anlehnen sowohl im Sitzen als auch im Stehen ist strengs-tens untersagt.)
Die Manierenliteratur charakterisiert zwar immer wieder die Frau als "Seele" geselliger Zusammenkünfte und Feste und als "Seele" des Hauses, doch bekommt sie in allen Beschreibungen keinen physisch manifesten Körper: "Charakterisierungen wie ‚eine liebliche Haltung', ‚ein feines, zartes Gesicht' oder ‚sanfte Hände' spiegeln nur ‚innere Vorgänge' und werden als Schablonen verwendet, ohne ihr körperliche Präsenz zu verleihen. Nur die ‚Buhlerin' und die ‚Kokotte' besitzen in den Anfeindungen der Literaten [hier im Zusammenhang: die Literaten der Manierenliteratur] einen sinnlichen Körper - er aber ist irritierend und bedrohlich, ein Werkzeug des Teufels. Die bürgerliche Frau hingegen wird mit einem Engel verglichen. Diese Metapher definiert die Art, wie bürgerliche Frauen ihren Körper tragen und bewegen sollen: quasi körperlos, alle Aufmerksamkeit auf die Seele lenkend."
Döcker resümiert: "Leiblichkeit ist in der Manierenliteratur um 1900 etwas Bedrohliches, das aus den Gedanken, Gefühlen und Texten verdrängt werden muss. Die Angst vor dem erotischen und sinnlichen Körper wird zwar nie thematisiert, geschweige denn in Frage gestellt, doch sie kommt implizit zum Ausdruck, wenn es darum geht, über etwas zu sprechen, das nicht benannt werden darf. Wo Kleidungsstücke den Körper bedecken, sitzt das Unaussprechliche und Private." Wie wir noch sehen werden, dient gerade das Dirnenlied den Literaten und den Bohemiens als Plattform, dieses "Unaussprechliche" auszusprechen.
Bei Döcker ist bereits das Stichwort "Engel" gefallen: Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der zum Idealbild der bürgerlichen Frau als entsexualisierte körperlose, aber liebende Mutter gehörte, war die christliche Frömmigkeit. Das Christentum galt als der Inbegriff von Reinheit, Wahrheit und Liebe. Diese Tugenden waren zugleich aber auch der Inbegriff der idealen bürgerlichen Weiblichkeit, weshalb auch angenommen wurde, dass Frauen die Frömmigkeit leichter fiele als Männern: "Die weiblichen Tugenden - Untertänigkeit und Selbstaufopferung - waren die Vorraussetzungen für die hingebungsvolle Frömmigkeit. Frauen bekamen damit gewissermassen das ‚Patent für das Christentum', indem sie das Verbindungsglied zwischen den Männern und dem Lieben Gott wurden." Auf diese Weise kam das bürgerliche Frauenideal als fromme Mutter sehr nahe an eine Heilige heran. Die Heilige ist jedoch immer dienend. Sie steht der Gottheit nahe, ist jedoch dieser unterstellt. Dies wird deshalb für uns wichtig, weil wir gerade in den literarischen Antiidealfiguren der "Femmes fatales" Frauen antreffen, die selbst götterähnliche Züge annehmen, also nicht mehr unterstellt sind, sondern zu selbsthandelnden oder selbstgetriebenen Wesen werden und als aktive dämonische Göttinnen auftreten.

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