|
Über die Antibürgerlichkeit, die
nicht nur einen zentralen Stellenwert in der Kunst
des 19. und 20. Jahrhunderts einnimmt, sondern
auch das literarische Kabarett bis in die 20er
Jahre entscheidend prägt, könnte eine
Kulturgeschichte geschrieben werden. Dennoch ist
sie als zusammenhängendes Phänomen kaum untersucht
worden. Wie bereits erwähnt, ist Peter Gay einer
der wenigen, der sich der Antibürgerlichkeit als
Phänomen, insbesondere in der Literatur des 19.
Jahrhunderts, zuwendet.
Er führt die Ursprünge der Antibürgerlichkeit der
Boheme auf eine bereits in vorangegangenen
Jahrhunderten nachweisbare immer wieder auftauchende
negative Haltung gegenüber den Mittelschichten
(Händler, Ladeninhaber, Geldverleiher etc.) zurück
und weist schliesslich auch bei Jesus, der laut der
Heiligen Schrift die Geldwechsler und Taubenverkäufer
aus dem Tempel vertrieb, eine
mittelschichtsfeindliche Haltung nach. Dennoch belegt
er, dass die Aggression gegen die Mittelschicht in
keinem anderen Jahrhundert eine derartige Radikalität
annahm wie im 19. Insbesondere ab den 1850er Jahren
nimmt die Antibürgerlichkeit ausgeprägte Formen an,
dies demonstriert Gay am Beispiel Flauberts. Ende
Dezember 1852, mitten in der Arbeit an seinem ersten
Roman "Madame Bovary", schrieb dieser an seinen
engsten Freund Jean Bouillet einen Brief, den er -
wenn auch scherzhaft - mit "Gustavus Flaubertus,
Bourgeoisophobus" unterzeichnete. Gay weist die
"eingefleischte Abscheu vor der risikoscheuen Mitte"
im gesamten Werk Flauberts nach, die insbesondere in
einem weiteren Zitat aus einem Brief an seinen Freund
aus dem Jahr 1855 noch deutlicher wird. Flaubert
schreibt: "Jawohl! Das ist insgesamt ein mieses
Jahrhundert. Und wir sitzen ganz schön in der
Scheisse! Was mich zornig macht, ist der
bourgeoisisme unserer
Schriftstellerkollegen! Was für Krämerseelen! Was für
hirnlose Blödiane!".Aus diesem Zitat wird besonders
eines deutlich: Der Hass Flauberts richtet sich nicht
nur gegen das "Bürgertum", sondern insbesondere gegen
die "Kollaborateure" unter den Künstlern, die dem
Bürgertum nicht in feindlicher Haltung
gegenüberstehen, sondern - wie bereits gezeigt - von
dessen Kaufkraft profitieren. Die Antibürgerlichkeit
Flauberts steigert sich in den folgenden Jahren noch.
Gay zitiert aus einem Brief von 1889, den Flaubert an
Georges Charpentier schrieb und worin er erklärt,
dass die Aussicht, keinen Bürgern zu begegnen, ihn
beruhige, denn er habe mittlerweile einen solchen
Grad von Erbitterung erreicht, dass er in Gegenwart
von Personen dieser "Gattung" ständig versucht sei,
"sie zu würgen oder, besser, sie in die Jauchegrube
zu schleudern".Gay lässt jedoch Flauberts
Antibürgerlichkeit nicht nur als künstlerischen
Ausdruck gelten, sondern weist gleichzeitig nach,
dass Flaubert gerade darin ein Mittel findet, um sich
von der bürgerlichen Schicht - aus der er nämlich
nicht nur durch seine Eltern stammt, sondern nach
deren Normen er auch lebt - zu distanzieren und
selbst zu definieren. Gay dazu: "Flauberts Absage an
die eigene Klasse klingt demnach wie eine Reaktion
auf die Tatsache, dass er sich ihr nicht wirklich
hatte entziehen können. Er projiziert, so scheint es,
auf seine Mitbürger Eigenschaften, die er bei sich
selbst entdeckte, und machte ordentlichen Lärm, um
seine Ängste zu übertönen. Niemand verkörperte das
mittelständische Arbeitsethos, das mittelständische
Ideal der Aufopferung für die Familie besser als
Flaubert. Kein Dandy, kein Bohemien hätte auch nur
einen Augenblick lang seine hoffnungslos bürgerliche
Lebensführung toleriert."
Flaubert ist jedoch nur eine antibürgerliche Stimme
von vielen - dies demonstriert Gay an weiteren
Beispielen. In die gleiche Richtung, mit
bürgerfeindlichen Schmähreden, schiessen auch
Théophile Gautier, Alfred de Musset, Honoré de
Balzac, Emile Zola, Heinrich Heine, Henri Beyle
Stendhal und viele andere. Sie werfen dem Bürgertum
Borniertheit, vulgären Materialismus, selbstsüchtige
Frömmigkeit und nicht zuletzt eine entkörperlichte,
entsinnlichte Lebenspraxis vor. Schliesslich prägte
Nietzsche das vernichtende Wort des
"Bildungsphilisters", eine Wortschöpfung, auf die er
nicht wenig stolz war. Nietzsche wird insbesondere zu
dem Philosophen, der der bürgerlichen Moral und dem
bürgerlichen Weltbild auf philosophischer Ebene am
härtesten entgegentritt. Auch der Mann, der der
Philosophie Nietzsches zum Durchbruch verhalf, der
dänische Literaturwissenschaftler Georg Brandes,
dessen Essays und Geschichtswerke in ganz Europa
gelesen wurden, verabscheut das Bürgertum. Gay führt
von ihm Zitate an wie: "Man kann sich keine
zureichende Vorstellung vom Philistertum des
dänischen Mittelstands machen, von seinem
unbezwingenden Widerstand gegen Aufklärung und
Klarheit, seiner Feigheit und Dummheit" und "Ich
verabscheue die bürgerliche Gesellschaft.
Für unsere Untersuchungen wird daraus eines besonders
deutlich: Während sich die antibürgerliche Hassgeste
noch zu Beginn und um die Mitte des 19. Jahrhunderts
gegen das Bürgertum schlechthin richtet, beginnt sie
sich im letzten Drittel (insbesondere ab den 70er
Jahren) auf die soziale Schicht des Mittelstands
einzuschiessen. In dieser Zeit, die wir einstimmig
als die "Defensive des Bürgertums" in der Literatur
behandelt finde, begann sich die Spitze der
bürgerlichen Schichten-Pyramide, das Grossbürgertum,
bereits von den unteren bürgerlichen Schichten
abzutrennen und in Lebensformen und Verhaltensweisen
dem Adel anzunähern
Wogegen richtete sich nun die Antibürgerlichkeit
konkret? Eigentlich gegen alles, was das Bürgertum in
seinem Wertesystem als "positiv" deklarierte. Peter
Gay: "Was das Bürgertum als seinen gesunden
Menschenverstand hochgehalten hatte, galt den
Kritikern als Stumpfheit und Mangel an Phantasie; der
Sinn fürs Praktische war vulgäre Selbstzufriedenheit,
die bereitwillig fliessenden Tränen zeugten mehr von
Sentimentalität als von echtem Gefühl, das
pflichtbewusste, regelmässige Leben war sklavische
Routine - durchgehender Rationalismus. In der
Schlacht um die öffentliche Meinung behaupteten die
kämpferischsten Antiviktorianer mit ihren immer
wieder aufgetischten Anekdoten von geilen Ehemännern
und frigiden Ehefrauen, von scheinheiligen
Kirchengängern und skrupellosen Kapitalisten ins
Feld."
Am deutlichsten konzentriert sich jedoch die
Antibürgerlichkeit auf die Achilles-Ferse des
bürgerlichen Wertesystems: Auf die Frau und auf die
Sexualität.
|
|