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Die Figur, die auf realer und
ideologischer Ebene der bürgerlichen Idealfrau,
der Ehefrau und Mutter, diametral entgegengesetzt
ist, ist die Dirne. Gerade deswegen wird sie zu
einer wesentlichen Kampffigur der Boheme, ja nicht
nur das: In der Solidarität und Sympathie zur
Figur der Dirne liegt ein wesentlicher Aspekt
bohemienscher Eigendefinition.
Die Dirne vereint als Figur sämtliche dem
bürgerlichen Moralsystem entgegengesetzten Aspekte -
aus bürgerlicher Sicht lässt sich das "Problem" Dirne
folgendermassen fassen: Sie ist Frau (das ist schon
Problem genug, wie Peter Gay gezeigt hat) und tritt
als Frau darüber hinaus in der Öffentlichkeit auf,
sie erscheint in der Gesellschaft als
personifizierter Sexus, ihre Körperlichkeit steht im
Vordergrund, sie ist selbstständige Unternehmerin und
kein Attribut eines Ehegatten, ihre Kinder sind ohne
bestimmten Vater, sie verführt die bürgerlichen
Ehemänner (denn aus bürgerlicher Sicht sind daran in
erster Linie die Dirnen schuld - nicht die Männer),
sie gilt als unchristlich und ungläubig, über die der
bürgerlichen Ehefrau zugeschriebenen Nächstenliebe
verfügt sie nicht, auch Treue kennt sie nicht,
dadurch wird ihr auch die "Herzensliebe"
abgesprochen. Sie ist gefährlich, weil sie den Mann
mit Geschlechtskrankheiten infizieren kann und damit
nicht nur sein Schicksal, sondern das von ganzen
Familien zerstören kann, sie ist Femme fatale: sie
lockt - aber sie kann mögliches Verderben mit sich
bringen; sie untergräbt die bürgerlich moralische
Sicherheit der Ehe allein durch ihr Auftreten.
Dem enterotisierten bürgerlichen Mutterideal, das
darauf angelegt war, sämtliche weiblichen
Sexualtriebe zu negieren und zu sublimieren, steht
sie diametral gegenüber. Damit zerfällt das
bürgerliche Weiblichkeitsbild also in zwei Pole:
Mutter oder Hure.
Mögen uns auch diese beiden Gegensätze aus heutiger
Sicht zu radikal vorkommen, so bildeten sie im
Weiblichkeitsbild des 19. Jahrhunderts die beiden
schwarz-weiss Klischees, zwischen denen es nicht viel
Platz für Graustufen gab. Entweder - oder; was
anderes gab es nicht. Die Prostituierte wurde zum
grundsätzlichen Gegenbild der tugendhaften Frau, und
als Begriff fiel unter Prostituierte alles, was nicht
tugendhaft und keusch war. Wenn eine noch so
gutangesehene bürgerliche Frau untreu war, wurde sie
von der Gesellschaft sofort als Dirne abgestempelt
und ausgeschlossen. Schauspielerinnen und Tänzerinnen
wurden, da sie in der Regel nicht in einer
bürgerlichen Ehe lebten, ebenfalls als Prostituierte
deklariert.
Der tugendhafte Pfad der Idealfrau war schmal
gesteckt und eine Abweichung davon bedeutete einen
nicht mehr gutzumachenden Fehltritt. Für die
Definition der Figur der Dirne bedeutete dies, dass
aus bürgerlich-moralischer Sicht kein
Geld-gegen-Sex-Handel vorliegen musste, damit eine
Frau als Hure angesehen werden konnte, sondern es
reichte schon der Umstand, dass sie einen einzigen
ausserehelichen Seitensprung gemacht hatte.
Karin Lützen führt die beiden grundsätzlich
entgegengesetzen Frauenklischees von Idealmutter und
Hure auf die sexuellen Gegenpole "Samenbehälter" und
"Samensaugerin" zurück.
Im Trend der biologischen Erklärungen wurde nicht nur
die Frau aus ihrer vermeintlichen Biologie heraus
erklärt, sondern auch der Mann. Ganz besonderes
Gewicht fiel dabei der Bedeutung des Samens zu.
Obgleich dem Mann der Geschlechtstrieb im Gegensatz
zur Frau zugebilligt wurde, galt dennoch auch bei
Männern seine Überwindung als grosse Tugend. Und auch
dies wurde wieder auf der wissenschaftlichen Ebene zu
erklären versucht. Im Zentrum der Begründungen stand
der männliche Samen, der als Ausbruch von Energie
betrachtet wurde. Die Bestimmung dieser Energie war
die Vermehrung - nicht aber der Genuss. Aus dieser
Argumentation heraus war zwar das Aufsuchen von
Prostituierten verpönt, Selbstbefriedigung aber ein
viel schwereres Übel.
Die begehrlose ideale Frau wurde - so Lützen - als
"Samenbehälter" angesehen, die dem Mann half, die
Tugend - also die Energie der Fortpflanzung -
aufrecht zu erhalten, die Energie des Samens in sich
aufzunehmen und Kinder zu gebären. Ihr
entgegengesetzt wurde die "Samensaugerin", die Frau,
die dem Mann den Samen aus sexueller Lust "wegnimmt".
Die "Samensaugerin" wurde so zum Feindbild, das
bekämpft werden musste. Die frisch entstandene
Gynäkologie schreckte auch nicht davor zurück,
Klitorisamputationen und Beschneidungen an Frauen
durchzuführen, um damit das gesellschaftliche
begehrlose Frauenideal zu sichern.
Von Seiten der Boheme wurden nun all die negativen
Attribute, die die bürgerliche Moral der Dirne
zuschrieb, ins Positive umgewertet - ebenso wie die
Tugenden der bürgerlichen Ehefrau ins Negative
umgewertet wurden. Was das Bürgertum an der guten
Ehefrau als Treue lobte, wurde als "Versklavung"
verspottet, gute Sitte galt als Verklemmtheit, die
Verdrängung der Sexualität als selbstentfremdeter
Gesellschaftszwang, die offene Sexualität der Dirne
hingegen als fast mythische Urkraft allen Lebens. Die
Figur der Dirne wurde damit auf der ideologischen
Ebene der Boheme zu einer Freiheitskämpferin für eine
neue bessere Weltordnung. Im Gegensatz zur bürgerlich
verklemmten Frau, die laut den zahlreichen
Moralschriften keine Lust an der Sexualität verspüren
durfte, wurde von der Boheme die Dirne zu einer Figur
stilisiert, die die Lust an der Sexualität über alles
andere stellt.
Dass diese Projektion auf die Figur der Dirne meist
wenig mit dem Elend der realen Prostitution zu tun
hat, liegt offen - gleichzeitig wird jedoch deutlich,
dass die Darstellung der Dirnen in den Liedern eben
vielfach weniger als Widerspiegelung der
gesellschaftlichen Wirklichkeit verstanden werden
darf, sondern vielmehr im Kontext einer
Gegenprojektion der verhassten bürgerlichen Sexual-
und Gesellschaftsmoral begriffen werden muss.
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