Zur Entwicklung der Prostitution
im 19. Jahrhundert

Dem eben gezeichneten idealen und heilen bürgerlichen Weltbild steht als Kehrseite der Medaille die brutale Realität der Prostitution im 19. Jahrhundert gegenüber, deren öffentliches Erscheinungsbild sich ebenfalls im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrhunderten radikal gewandelt hat.
Der Hauptanteil der wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Literatur über die Prostitution des 19. Jahrhunderts ist nach der Jahrhundertwende und bis anfang der 30er Jahre erschienen - also just in dem Zeitraum, in dem auch das Dirnenlied seine Hochblüte erlebte. Im 19. Jahrhundert finden wir in der Regel ethisch-theoretische oder sexualhygienische Schriften, die zum Zweck der "Problemlösung" verfasst wurden; kaum jedoch Quellen, die sich um die Dokumentation der Geschichte und Entwicklung der Prostitution bemühen - wie dies Beispielsweise Ostwalds "Grossstadtdokumente" versu­chen.
Die neueste und zugleich fundierteste Arbeit, die sich mit der Prostitution des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts auseinandersetzt - mit besonderem Augenmerk auf die deutsche Entwicklung - ist Regina Schultes Untersuchung "Sperrbezirke", auf die wir uns hier hauptsächlich stützen. Die Entwicklung der Grossstädte und die damit verbundene zunehmende Anonymität, die Armut und Existenznot des vierten Standes, die gesellschaftlichen Umstrukturierungen, die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft, aber auch die aufkommenden Konsummärkte und die Vergnügungssucht - dies alles sind Faktoren, die für eine rasante Entwicklung der Prostitution im 19. Jahrhundert verantwortlich gemacht werden können.
In Deutschland setzte die erste grosse Industrialisierungswelle nach 1850 ein. Mit ihr ging zeitgleich auch die Entwicklung der deutschen Grossstädte voran. Die Industrie schuf Fabriken und Arbeitsplätze, die einen gigantischen Bevölkerungsstrom aus ländlichen Gegenden anzog; Menschen, denen ihr Hof oder Handwerk den Lebensunterhalt nicht mehr garantieren konnten, Arbeitslose oder Lohnarbeiter; sie alle strömten den neuen Städten zu, die zu Industrieknotenpunkten geworden waren. In knapper Zeit aus dem Boden gestampfte Mietskasernen nahmen die Massen an Fabrikarbeitern auf. Damit war neben Adel, Bürgertum und den Handwerkern ein sogenannter "vierter Stand" entstanden: Der Arbeiterstand.
Die Städte explodierten: Zwischen 1850 und 1900 wuchs Berlin von 400'000 Einwohnern auf 1,5 Millionen an, Hamburg von 155'000 auf 700'000 und München von 35'000 auf 500'000.
Auf der einen Seite prägte die Masse der Fabrikarbeiter, ihre Ausbeutung und existentielle Not das Bild der Grossstadt, auf der anderen Seite stand der anwachsende Reichtum des Grossbürgertums für den neu errungenen wirtschaftlichen Aufschwung des 19. Jahrhunderts. Die Löhne der Arbeiter waren niedrig, die Mieten in den Mietskasernen jedoch verhältnismässig hoch, so dass der alleinverdienende Arbeiter von seinem Gehalt seine Familie nicht ernähren konnte. Nun waren vielfach auch die Frauen gezwungen, Geld für den gemeinsamen Lebensunterhalt in der Fabrik zu verdienen. Dazu kam noch, dass Frauen für die gleiche Tätigkeit um ein Vielfaches schlechter bezahlt wurden als die Männer.
Eine zentrale Folge dieser rasenden Grossstadt-Entwicklung war das Frauenelend und der Frauenüberschuss in diesen Sammelbecken - vor allem die Frauen der zweiten Generation, die Töchter der Arbeiter, waren davon betroffen: "Von Mitte der 60er bis Mitte der 70er Jahre kam dann die plötzliche Geburtsperiode der deutschen Grossstädte. In ihnen sammelten sich Arbeitermassen um Industrien, die von Männern betrieben wurden; die Töchter und Frauen dieser Arbeiter bildeten ein Angebot arbeitssuchender weiblicher Kräfte, das nicht mehr wie früher am Herd, in der Kinderstube und Waschküche des bür­gerlichen Haushalts, im Dienst der oberen Stände unterkommen konnte. "Damals strömten auch die Frauen, die als Rückstand der ausgewanderten Männer - es waren Arbeiter, Handwerker und kleine Landsleute gewesen - auf dem Lande geblieben waren, arbeitssuchend in die Städte."
Die Frauenarbeitslosigkeit und die niedrigen Löhne trieben die Arbeiterinnen oft aus existenzieller Not in die Prostitution. So stellte diese Schicht in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts den höchsten Prozentsatz der Prostituierten, was sich jedoch gegen Ende des Jahrhunderts ändern sollte. Da waren es vor allem die Frauen aus dienenden Berufen, wie Verkäuferinnen und Dienstmädchen, die den Hauptanteil der Prostituierten ausmachten. Ein Grossteil der Frauen, die früher in die Fabrik gegangen wären, fanden nun als Verkäuferinnen, Sekretärinnen, Telefonistinnen, Stenographinnen Arbeit in der grossstädtischen Kaufgesellschaft. Aber auch hier waren die Löhne oft an der Existenzgrenze. Tatsache ist, dass auf engem Raum starke soziale und finanzielle Gegensätze einander gegenüberstanden. Zum einen wurden dadurch die finanziell Schwächeren zur Prostitution gezwungen, zum anderen standen auch die bürgerlichen Männer unter dem gesellschaftlichen Zwang, ihre Sexualtriebe an den Prostituierten auszuleben, und nicht an bürgerlichen Frauen, von denen sie durch Moral und Gesellschaft - ausser zum Heiraten - ferngehalten wurden.
Neu an der Prostitution des 19. Jahrhunderts ist in erster Linie ihr öffentliches Auftreten: Strassenprostitution, Prostituierte in Tanzlokalen und Varietés und bei öffentlichen festlichen Anlässen gehören zum Alltagsbild. Zwar war die Prostitution schon immer vornehmlich in den Städten zu finden, doch war sie in den vorangegangenen Jahrhunderten zumeist in kontrollierte Bordelle verbannt und stand unter zunftgemässer Organisation. Sie galt als "unchristlich" und "verabscheuenswürdig", wurde jedoch als "unentbehrliches Mittel, um noch grösserer Sünde unter den Bewohnern einer Stadt vorzubeugen", in vielen Städten geduldet und meist offiziell durch die Stadtverwaltung betrieben und durch kirchlichen Konsens legitimiert.
Sogar die Kirche selbst war vielfach Betreiberin von Bordellen (z.B. in Mainz oder Strassburg). Damit wurde den Freudenhäusern als öffentliche Einrichtungen unter der Regie der Obrigkeit im städtischen Sozialgefüge ein fester Platz als soziale "Ventilfunktion" zugewiesen. Die Prostituierten, die in diesen Bordellen arbeiteten, standen unter der Kontrolle, aber auch unter dem Schutz der Stadt. Sie waren verpflichtet, sich im öffentlichen Leben und auch auf der Strasse so zu kleiden, dass sie als Prostituierte erkannt wurden und damit auch der Verachtung preisgegeben waren. Die Prostituierte wurde zwar geächtet - aber nicht verleugnet. Im Gegensatz zu dieser zugelassenen Prostitution wurde die freie Prostitution schwer verfolgt und bestraft.
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts nahm jedoch die Bedeutung der Bordelle rasant ab. Zumeist, weil die Bordelle oft an den Stadtrand und in die dunklen Viertel verdrängt wurden, was eine Folge davon war, dass sich die städtischen Anwohner gegen die Freudenhäuser wehrten.
An Stelle der Bordelle traten nun Tanzlokale und Kneipen. Hans Ostwald über die Situation in Berlin: "In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Bordelle minder­wertig wurden, fanden sich die Prostituierten in Tanzlokalen ein, die bald immer feiner wurden und von denen selbst der Polizeirat Stieber schwärmte."
Ab den 50er und 60er Jahren setzte sich die Strassenprostitution durch: "Die Prostitution wurde auf die Strasse gedrängt und zwar auf die verkehrsreichen Strassen und dazu in den Abendstunden, wo nach Schluss der Fabriken, Geschäfte und Bureaus sich für die Prostituierten am besten Gelegenheit findet, das zu erreichen, was sie suchen."


Die Prostitution wird damit ein "städtisches Problem, dessen Charakter zum grossen Teil von der Grösse der Stadt abhängt." Dieser Satz darf für die gesamteuropäische Entwicklung der Prostitution im 19. Jahrhundert als grundlegend betrachtet werden. Durch die Bevölkerungsexplosion in den Städten schoss auch die Zahl der Prostituierten in die Höhe.
Für das 19. Jahrhundert wurde gerade die "Freie Prostituierte", bei der die Frauen höchstens noch einem Zuhälter unterstanden, prägend. Die Prostitution fand jetzt in der Öffentlichkeit statt, auf der Strasse und in den Geschäfts- und Verkehrszentren, wo sich grosse Menschenmengen zusammenfanden. Auch ging damit eine Inflation der Preise einher. Konnten es sich früher nur gutbetuchte Männer leisten, in ein Bordell zu gehen, so waren die Liebesdienste der Dirnen im 19. Jahrhundert schon für fast jeden erschwinglich. Regina Schulte beschreibt in ihrer Studie über die Prostitution sehr treffend, wie die Mentalität des Massenartikels im 19. Jahrhundert sich auch auf die "Ware Mensch" auswirkte: "Wie die Objekte des täglichen Gebrauchs mehr und mehr zu Massenartikeln wurden, so wurde die Prostituierte, die sich in den Markt integrierte, im 19. Jahrhundert mehr und mehr Objekt des täglichen Gebrauchs, der Gelegenheit, an jeder Ecke waren ihre Liebesdienste kaufbar."
Auch Stefan Zweig beschreibt in seiner "Welt von gestern", die wir noch mehrfach zitieren werden, das Angebot: "In jeder Preislage und zu jeder Stunde war damals weibliche Ware offen angeboten, und es kostete einen Mann eigentlich ebenso wenig Zeit und Mühe, sich eine Frau für eine Viertelstunde, eine Stunde oder Nacht zu kaufen wie ein Paket Zigaretten oder eine Zeitung."
Die Prostitutionsfrage des 19. Jahrhunderts muss wie gesagt besonders unter dem As­pekt der bürgerlichen Moral betrachtet werden. Sie bildete das Ventil, durch das sich die ganze Verklemmtheit des bürgerlichen Zeitalters - im Sexuellen wie im Moralischen - Luft machen konnte: "Beim Anblick der sich verbreitenden Prostitution nimmt die Gesellschaft mit Erschrecken wahr, was sie an sich selbst nicht wahrhaben will - ihr entstellter Sexus tritt ihr entgegen. Sie gerät in den Zwang, sich unablässig damit zu beschäftigen, diesen von sich fernzuhalten."
Stand in früheren Jahrhunderten das Dualdenken von "Gut" und "Böse" stark im Zeichen der Religion und unterschied zwischen Teufel und Gott, zwischen Hexen und Heiligen, so rückte an diese Stelle im 19. Jahrhundert ein moralisches Dualsystem von "sittlich bzw. moralisch gut" oder "unsittlich und damit schlecht". Zwar waren Religion und Frömmigkeit immer noch wichtig, doch bildeten sie nunmehr einen Teilaspekt dieses moralischen Wertesystems.
Während von sozialistischer Seite die soziale Ungleichheit für das Übel der Prostitution verantwortlich gemacht und damit das Bürgertum angeklagt wurde, sah man auf bürgerlich-konservativer Seite vor allem in der nicht mehr vorhandenen Erziehung und Religiosität die Ursachen: "Es ist also unserer Jugend die unentbehrliche Basis für ein sittliches Leben verloren gegangen, denn wer an kein ewiges Leben, an keine Vergeltung nach dem Tode glaubt, kann auch kein Bedürfnis empfinden, auf dieser Erde ein sittliches Leben zu führen."
Gerade in der Prostitutionsfrage liess sich mit dieser Argumentation einiges rechtfertigen: Diesen Gedankengängen zufolge konnte man die Ursachen des sozialen Elends relativieren und nicht die finanzielle Not, sondern die nicht genügend moralische Erziehung der unteren Stände dafür verantwortlich machen, dass sich gerade aus den niederen Schichten die meisten Prostituierten rekrutierten. Diese Argumentationsweise kam der Doppelmoral des Bürgertums natürlich sehr entgegen, liess sich doch damit die Prostitutionsfrage aus bürgerlicher Sicht bis zu einem gewissen Grad ethisch legitimieren - sie selbst wurden ja für diese Entwicklung nicht zur Verantwortung gezogen.
Bis ins letzte Drittel des Jahrhunderts wurde die Schuld an der ausufernden Prostitution allein den Frauen zugeschoben. Die prostituierte Frau traf die Schmach und die Verachtung der Gesellschaft, während man die Seite der Kunden - also der Männer - überhaupt nicht betrachtete. Ludwig Heinrich beschreibt dieses "Stempeln einer ganzen Schar von Frauen und Mädchen zu einem besonderen verachteten Stande, dass unabänderliche 'in Acht und Bann thun' dieser Klasse, während die Männer, von denen diese Frauenspersonen nur die Spiegelbilder und Erzeugnisse sind, frei ausgehen."
Erst allmählich wurden auch Stimmen laut, die die Schuld nicht nur beim Angebot, sondern gleichfalls bei den Konsumenten, den zahlenden Männern, suchten.
Der Prostitution unter den Dienstmädchen widmet Regina Schulte ein eigenes Kapitel. Dienstmädchen wurden von ihren Hausherren und deren Söhnen als sexuelles Freiwild betrachtet, im Fall einer Schwangerschaft jedoch sogleich entlassen, was diese häufig in die Prostitution trieb. Dienstmädchen waren gerade deshalb sehr beliebt, weil hier die jungen Herrensöhne ihre ersten Erfahrungen sammeln konnten, ohne der Gefahr der Ansteckung mit Syphilis und anderen Geschlechtskrankheiten ausgesetzt zu sein. Darüber hinaus kamen die Mädchen den Herren oft auf halbem Weg entgegen, hofften sie doch, durch eine mögliche Heirat sozial aufzusteigen. Auf Seiten der Hausherren und der Söhne hingegen betrachtete man den Geschlechtsverkehr als eine weitere Dienstleistung.
Natürlich ist die ausufernde Prostitution des 19. Jahrhunderts ein wesentlicher Faktor im Hinblick auf die Entwicklung des Dirnenlieds. Zum einen tritt die Prostitution zusammen mit den "Echten" Dirnenliedern - also denjenigen, die in Kneipen zur erotischen Animation der Gäste gesungen wurden - in direkten Bezug, zum andern inspirierte sie Autoren und Interpreten, von Dirnen zu singen. Dabei ist aber der wesentliche Aspekt der Rebellion gegen bürgerliche Moral zu beachten. Die Thematik der Prostitution bildete aus diesem Blickwinkel heraus das ideale literarische Transportmittel, um hart gegen bürgerliche Moral und Werte vorzugehen und Opposition zu ergreifen.