Zum Begriff der Boheme

Der Begriff "Boheme", der wie Cabaret und Chanson ein französisches Lehnwort ist, ist in dieser Arbeit schon mehrmals gefallen und es wurde bereits erwähnt, dass das literarische Kabarett - in Deutschland wie in Frankreich - in erster Linie eine Geburt aus dem Geiste der Subkultur der Boheme ist. Dennoch geht bis heute keine einzige Kabarettgeschichte auf das Verhältnis zwischen Boheme und Kabarett ein.
Heinz Greul betrachtet zwar in seiner Arbeit "Bretter, die die Zeit bedeuten" das Kabarett im Kontext historischer komödiantischer Tradition, bei der er angefangen vom antiken "Satyrspiel" des aristophanischen Zeitalters über die "Farce" und die "Commedia dell' arte" bis hin zur Vagantendichtung und zu den "Vaudeville Theatern" gemeinsame Grundzüge nachweist - insbesondere hinsichtlich der satirischen Kritik dem jeweils herr­schenden System gegenüber, aber auch hinsichtlich der zentralen Funktion der Lieder. Er begreift letztlich das Kabarett im Kontext der Komödie und Komödiantik und damit als spezifisches Phänomen des Theaters in Verschmelzung mit dem Volks- und Bänkellied. Greul lässt dabei allerdings den soziologischen und gesellschaftspolitischen Kontext der "Boheme" des 19. Jahrhunderts ausser Acht, dem wir uns aber im Hinblick auf das Dirnenlied zuwenden müssen.
Die umfangreichste und zugleich fundierteste Untersuchung zur "Boheme" liefert Helmut Kreuzer mit seiner 1968 erschienenen Publikation "Die Boheme - Beiträge zu ihrer Beschreibung", auf die wir uns im folgenden Abschnitt besonders stützen.
Kreuzer zeigt vorerst bezüglich der Bedeutungswandlungen des Begriff auf, dass seit ihrem ersten Auftreten im 15. Jahrhundert in Frankreich die Zigeuner, Landstreicher und Vagabunden als "Bohèmiens" (oder "bohème, bohêmes) bezeichnet wurden und dass sich in den folgenden Jahren der Begriff besonders als Ausdruck für "unordentliche" und "liederliche Sitten" im französischen Sprachgebrauch etabliert hat.
Besonders im 18. Jahrhundert erfuhr der Begriff eine Aufwertung, die Hand in Hand ging mit der Aufwertung der Zigeuner, Vagabunden und Räuber (kurz: der Aussenseiter der vorindustriellen Gesellschaft), die insbesondere von den Schriftstellern als interessante und individualistische Existenzen aufgegriffen wurden. Dies weist Kreuzer über Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" bis zu E.T.A. Hoffmann, Brentano, Mörike, Puskin, Bé­ranger, Prosper Merimée u.a. nach. Es setzte eine Romantisierung des Zigeunerlebens ein, dessen pittoresken Reize die Literaten in Bann zu ziehen begann. Gleichzeitig zeigt Kreuzer, dass sich besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das soziale und kulturelle Selbstverständnis (aber auch die gesellschaftliche Definition) des Künstlers wandelt und nun den Schriftsteller aus der Nähe des Gelehrten in die Nähe des Malers, des Komödianten und Schauspielers und anderer Künstler rückt. Damit entfernt sich das Künstlerbild von der gesellschaftlich geregelten und geordneten bürgerlichen und adeligen Welt, von der es noch zuvor ein Teil zu sein schien.
Auch Peter Gay belegt in seiner Untersuchung über die Kunstkriege des 19. Jahrhunderts, "Bürger und Boheme", dass Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine grundsätzliche Wandlung in der sozialen Haltung zwischen Künstler und Gesellschaft stattfindet. Während in vorangegangen Jahrhunderten die Künstler als "Schöpfer der Hochkultur" - so Gay - voll in die Gemeinschaft integriert und "willige Diener der Macht" waren (ob diese nun staatlich, höfisch oder kirchlich war), begann dieses "dienende" Verhältnis im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts aufzubrechen. Gay macht für diese Entwicklung nicht zuletzt die Aufklärung und den damit verbundenen neuen Individualismus verantwortlich.
Ein weiterer wesentlicher Grund ist aber auch in der einsetzenden Kommerzialisierung der Kunst zu finden. Bezüglich der Bildenden Kunst setzte diese Kommerzialisierung damit ein, dass mit der Industrialisierung breite Schichten des finanziell erstarkten Bürgertums als Auftraggeber und Käufer auf den Plan traten. Die rasant steigende Nachfrage nach Kunst bot gleichzeitig mehr Kunstschaffenden die Möglichkeit von ihren Werken zu leben - und die Zahl der Künstler nahm mit der steigenden Zahl der Käufer zu.
Radikaler als in der bildenden und darstellenden Kunst vollzog sich die Kommerzialisierung auf dem Sektor Literatur. Noch im 17. Jh. hatte kein Autor auf ein Honorar für sein Buch zu hoffen - im besten Fall bekam er vom "Drucker-Verleger-Sortimenter in einer Person" ein paar Freiexemplare. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen sich allmählich die Berufe des Druckers, Verlegers und Sortimenters, also Buchhändlers, in eigene Berufssparten aufzuteilen. Ein Urheberrecht für geistiges Eigentum gab es je­doch noch keines. Bücher wurden nicht nach Inhalt, sondern nach Gewicht auf den je­weiligen Buchmessen getauscht. Erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts setzen sich nach zahlreichen erbitterten Kämpfen zwischen Verlegern und Buchhändlern radikale Änderungen durch. Der Tauschhandel wurde durch verschiedene kommerzielle Handels­arten, die auf dem Grundgedanken "Geld-gegen-Ware" basieren, abgelöst. Auch der Buchnachdruck wurde Ende des 18. Jahrhunderts durch gemeinsame Beschlüsse des Buchhandels weitgehend unterbunden. Da es nun im Konkurrenzkampf um den Buch­absatz für die Verleger darum ging, verkaufbare Autoren an sich zu binden, begannen sie auch Autoren-Honorare zu zahlen. Dies bedeutete konkret, dass es nicht mehr wie früher für den Autor bloss eine "Ehre" war, ein Buch zu schreiben, sondern dass die Arbeit auch finanziell abgegolten wurde. Ab der Industrialisierung setzte im Buchhandel der gleiche marktwirtschaftliche Mechanismus ein wie in den bildenden Künsten: Das aufstrebende und alphabetisierte Bürgertum bildet einen neuen grossen Markt des Leserpublikums, dessen steigende Nachfrage nach Büchern mit einem steigenden Angebot beantwortet wurde. Darüber hinaus traten im 19. Jahrhundert die Zeitungen, Tagesblätter und Journale als Massenmedien einen Siegeszug an, und auch sie boten der schreibenden Zunft zahlreiche neue Verdienstmöglichkeiten.
Daraus wird eines deutlich: Der Kunst- und Literatur-Markt, der früher von Adel und Gelehrten dominiert wurde, wurde nun vom Bürgertum bestimmt und zum "Massenmarkt" ausgeweitet. Dass die Bürger dabei vielfach ihre ästhetischen Ansichten verwirklicht haben wollten - sei es nun in Auftragsarbeiten oder sei es, dass sie das kauften, was ihrem "bürgerlichen" Geschmack entsprach -, liegt auf der Hand und setzte auf der Seite der Boheme Aggressionen gegen die Kunst "bestimmenden" Bürger frei, aber auch gegen Kunstschaffende, die diesem Geschmack nachgaben und damit gut verdienten. In keinem vorangegangenen Jahrhundert wurden derart harte und erbitterte Kämpfe auf dem Gebiet der Ästhetik ausgefochten wie im 19. Peter Gay widmet in seiner gross angelegten Kuturgeschichte des 19. Jahrhunderts ("The bourgeois experience" 4Bde.) den "Kunstkriegen" des bürgerlichen Zeitalters einen eigenen Band. Die beiden grössten Gegenspieler in diesen ästhetischen, aber auch moralischen und ideologischen Auseinandersetzungen heissen Bürger (aber auch "bürgerliche Künstler) und Boheme.
Die neue Situation des bürgerlichen Kunstmarkts des 19. Jahrhunderts ermöglicht dem Kunstschaffenden - bzw. zwingt ihn -, selbst in eine Art Kunst-Unternehmerrolle zu schlüpfen und sich auf dem freien Markt zu behaupten. Bei den viel grösseren Massen, die sich nun für das Leben als Kunstschaffende entscheiden und von Ruhm, Anerkennung und von einer gesicherten Existenz träumen, liegt offen, dass es zunehmend härter wird, als Künstler finanziell zu überleben, wenn man nicht - wie Wedekind, Albert Langen und einige andere - das väterliche Vermögen verprassen kann. Das Gros dieser Künstler lebt in Armut, meist in den billigsten Stadtbezirken zusammen mit den Huren und Verbrechern, und bildet die berühmt-berüchtigte und in vielen literarischen Darstellungen in schöner Verklärung gezeichnete Boheme.
Diese enge soziale Verwandtschaft und das Zusammenleben der Boheme mit dem Ver­brecher- und Dirnenmilieu hat, wie wir an vielen Beispielen von Bruant über Hans Hyan bis zu Walter Mehring und Heinrich Zille belegen werden, eine allgemeine Soli­darisierung mit dem Milieu zur Folge.
Kreuzer zeigt an zahlreichen Quellen aus dem 19. Jahrhundert, dass man sich schon damals über die Existenz der Subkultur der Boheme zwar einig war, sich aber mit einer klaren Eingrenzung schwer tat. Die allgegenwärtige Armut der Boheme wurde gern als eines ihrer Hauptmerkmale zur Definition herbeigezogen. Aus dieser Perspektive versuchten manche - wie Anton Kuh - die Boheme aus materiell bedingter soziologischer Sicht einzugrenzen: "Über das Bohemientum ist vielfach die irrige Meinung in Umlauf, dass es eine künstlerische, extravagante Form des Daseins darstelle. In Wahrheit bezeichnet es bloss eine bestimmte pekuniäre Situation; einen Zwang-, keinen Wahlzustand. Die Menschen, die bei völlig geregeltem materiellen Zustand ihres Lebens, Bohemiens zu sein glauben [...] sind [...] missratene Bürger. Der wahre Bohemien ist ein Pedant [...] aber sintemalen [...] er den Druck unsicherer materieller Verhältnisse noch weniger ertragen kann, so entsteht bei ihm jene Geste der Fahrigkeit und Unbekümmertheit, die der Fernstehende als Bohemientum ansieht."
Solchen Eingrenzungen stehen ideologische Definitionen gegenüber, wie zum Beispiel folgende von Georg Fuchs. Fuchs unterteilt die Boheme in zwei Hauptgruppen - nämlich die "echten" und ideologischen und diejenigen, die nur aus ihrer materiellen Notsituation zum Bohemientum gezwungen werden, im Grund ihres Herzens jedoch keine sind: "Man muss zweierlei ‚Bohemiens' unterscheiden: solche, die es nur ‚faute de mieux' sind, solange ihnen der noch nicht errungene äussere Erfolg keine andere als eine zigeunernde Existenz erlaubt, und solche, die es von Natur sind und daher auch bleiben [...] Echt genialische Zigeunertemperamente [...] wie Bellermann [sic!] in Schweden und Verlaine."
Bereits in diesem Zitat zeigt sich die Idealisierung der Aussenseiterexistenz des "wahren" Bohemien, der sich auch bei eintretendem Erfolg nicht in das gesellschaftliche System eingliedert. Kreuzer macht in seiner Untersuchung deutlich, wie man in der Boheme beginnt, die eigene Armut und Mittellosigkeit als heroische antibürgerliche Haltung zu stilisieren und zu idealisieren und damit im wahrsten Sinne des Wortes aus der "Not" eine "Tugend" macht.
"Wenn die Ideologie der ‚heiligen Armut' sich mit der Verneinung der sozialen Umwelt verbindet und aus ihr legitimiert, ist es konsequent, jede Art von Erfolg in der gegebenen Gesellschaft als Zeichen eines Unwerts zu denunzieren; anders gewendet: es erscheint dann konsequent, den sozialen Misserfolg nicht nur freiwillig zu erleiden, sondern ausdrücklich zum Ziel zu erheben, aktiv zu wollen."
Die Boheme zu definieren und einzugrenzen ist ähnlich schwierig wie die Definition des "Bürgertums" - besonders weil es sich bei der Boheme soziologisch betrachtet um den "Abhub aller Klassen" handelt - wie Marx formulierte.
Wenden wir uns nun Kreuzers Definition der Boheme zu. Er definiert die Boheme des 19. und 20. Jahrhunderts folgendermassen: "Der Begriff Boheme bezeichnet in unserem Zusammenhang eine Subkultur von Intellektuellen - in denjenigen industriellen oder sich industrialisierenden Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts, die ausreichend individualistischen Spielraum gewähren und symbolische Aggressionen zulassen -, Randgruppen mit vorwiegend schriftstellerischer, bildkünstlerischer oder musikalischer Aktivität oder Ambition und mit betont un- oder gegenbürgerlichen Einstellungen und Verhaltensweisen. Bedeutende und unbedeutende, berühmte, berüchtigte und unberühmte Autoren und Künstler zählen dazu: Boheme ist keine ästhetisch-kritische, sondern eine sozialgeschichtliche Kategorie. Seit über hundert Jahren werden der Boheme periodisch Totenscheine ausgestellt; doch sie ist immer wieder virulent geworden und von der internationalen Bühne nie ganz verschwunden; auch in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts ist sie wieder provozierend sichtbar, nicht nur in den Vereinigten Staaten. Das legt den Schluss nahe, eine Tendenz zur Boheme sei den bisherigen industriellen Gesellschaftsformen inhärent, begleiten deren angepasste Mittelschichten als Komplementärphänomen."
Kreuzer erachtet in dieser Definition die künstlerische Tätigkeit oder Ambition als "vorwiegend", aber nicht als zwingend. Viele Bohemiens sind zwar Künstler oder Kunstschaffende, doch ist die künstlerische Produktivität kein zwingendes Definitionskriterium des Bohemien. Ebenso ist, wie oben bereits gezeigt, nicht jeder Künstler ein Bohemien.
Es fällt auf, dass Kreuzer die Antibürgerlhkeit, die er als "gegenbürgerliche Einstellung" benennt, bereits in den Kern seiner Definition dieser Subkultur aufnimmt. Dass die Antibürgerlichkeit nicht bloss ein "Symptom" der Boheme, sondern einer der Hauptaspekte - wenn nicht der Hauptaspekt schlechthin - ist, über den sich die Boheme als solche definiert, zeigt auch Peter Gay. Die Antibürgerlichkeit scheint der grösste gemeinsame Nenner zu sein, über den sich die Boheme definiert. Sie wird im Hinblick auf das Dirnenlied und insbesondere auf das Weiblichkeitsbild der Boheme, das dem bürgerlichen weiblichen Idealbild als Antiidealbild entgegengestellt ist, von ausschlaggebender Bedeutung. Setzt Kreuzer in seiner Definition fest, dass Boheme "keine ästhetisch-kritische, sondern eine sozialgeschichtliche Kategorie" ist, so würde ich die Definition dahingehend erweitern, dass die Boheme sich durch die Praktizierung der spezifischen "ästhetisch-kritischen Kategorien" erst soziologisch als Gesellschaftsschicht zu definieren vermag. Aus dieser Perspektive versuchen wir - in Anlehnung an Ulrike Döckers Definition des "Bürger­tums" als spezifische "kulturelle Praxis" - die Boheme als Gesellschaftsschicht zu er­fassen, die sich ebenso erst durch die Ausübung einer bestimmten "kulturellen Praxis" als Gesellschaftsschicht definiert. Der Kern dieser "bohemienschen Praxis" heisst: Gegen! Insbesondere gegen den gesellschaftlichen Mainstream der "bürgerlichen Praxis".