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"Die Lyriker von gestern
Die hatten die Musen als Schwestern
Und tranken kastalischen Quell
Die Lyriker von heute
Die haben Hetären als Bräute
Und saufen damit im Bordell"
Der Verfasser dieses Gedichts
konnte noch nicht wissen, dass die kleinen
Schweinereien sich noch recht sauber verhielten im
Gegensatz zu dem, was man ab 1910 lesen konnte.
Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, begann sich
ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Sympathie zur Dirne
im Zeichen antibürgerlicher Haltung anzukündigen,
doch brach ein regelrechter Dirnenkult erst im
letzten Drittel des Jahrhunderts im Zeichen des
Naturalismus vollends aus.
Für den "bürgerlichen Realismus", der bis in die
1870er Jahre bestimmend blieb, war die Dirne noch
keine Zentralfigur - allein schon nicht wegen ihrer
allzu sexuellen und erotischen Charakteristika.
Christel Roth-Müller, die die Darstellung der Dirne
in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts
untersucht hat, bemerkt in Bezug auf das Verhältnis
des "bürgerlichen Realismus" zur Dirne treffend, dass
hier eine "gewisse Prüderie geradezu Mode ist."
Erst mit dem Naturalismus hielten Ende des
Jahrhunderts das Grossstadtmilieu und die Darstellung
von Randfiguren in der Gesellschaft Einzug in die
Literatur, die Malerei und nicht zuletzt auch in die
Oper (Man denke an Bizets Oper der Femme fatale
"Carmen", die bei ihrer Uraufführung am 3. März 1875
in der Pariser "Opéra comique" einen deutlichen
Misserfolg erlebte und als unmoralisch und
sittlichkeitsgefährdend verurteilt wurde.)
Die Literatur des Naturalismus beginnt sich nun
offensiv mit dem Dirnentum und der Verbrecherwelt zu
befassen. Ein paar Beispiele: Hermann Conradi mit
seinem "Karneval der Armen" (1886), in dem eine
hübsche Tochter durch Prostitution ihre Eltern
ernährt; Else Jerusalem mit ihrem Roman "Der heilige
Skarabäus" (1909), der sich sehr eindringlich mit dem
Bordellbetrieb auseinandersetzt; Hans Jaegers
"Christiania-Bohème" (1885), wo versucht wird, eine
Anerkennung der Prostitution zu erreichen, um die
bürgerlichen Konventionen der Ehe einzureissen;
Hermann Bahr "Die neuen Menschen", wo eine
bürgerliche Ehe durch das Eingreifen einer Dirne
zerbricht; John Henry Mackay "Albert Schnells
Untergang" (1895), wo sich ein Lehrer mit einer
Prostituierten ruiniert und dem Delirium verfällt.
Nicht zu vergessen ist hier auch Heinrich Manns
"Professor Unrat" (1905), der wegen eines leichten
Mädchens alle moralischen Normen vergisst und
schliesslich im Gefängnis landet.
Dirne und Verbrecher, Bettler und subproletarische
Existenz werden zu den Lieblingsfiguren der neuen
jungen Künstlergeneration, die ihr grosses Vorbild in
Emil Zola sieht. Auch der Naturalismusspezialist
Günther Mahal geht in seiner umfassenden Darstellung
dieser literarischen und künstlerischen Strömung
ausführlich auf die neuen Leitfiguren ein: "Für die
Naturalisten wurden die Dirne, der Verbrecher oder
kranke und gestörte Menschen zu den Leitfiguren ihrer
Werke. Diese Figuren waren zwar nicht neu, doch
traten sie nun in einer nie zuvor da gewesenen
Häufigkeit auf. Fiel ihnen vor den Naturalisten oft
lediglich die Rolle der ‚komischen Figur' in Romanen
oder Bühnenstücken zu, so wurden sie nun zu den
zentralen Handlungsträgern. Die Hinterhöfe, die
Rinnsteine und die engen dreckigen Arbeiterstuben
wurden zu beliebten Kulissen." Mahal begründet diesen
Trend einerseits durch das soziale Engagement der
neuen Generation, aber auch durch ein grosses
"Anti"(-bürgerlich) und letztlich auch aus einer
neuen Ästhetik der jungen Künstlergeneration heraus,
die nicht mehr "schön", sondern "wahr" sein will.
Die Ursachen für diesen plötzlichen radikalen
"Wahrheitsdrang" sind ebenfalls in der verlogenen
bürgerlichen Doppelmoral zu suchen. Eine ganze
Gesellschaftsschicht richtete ihre Interessen über
Jahrzehnte nur auf den "schönen Schein" und die
Fassaden, während sie mit verbissener Hartnäckigkeit
alle Schattenseiten des Daseins wie Prostitution,
Sexualität, Perversion oder Armut konsequent
verdrängte. Sigmund Freud geht in seinen beiden
Aufsätzen "Das Unbehagen in der Kultur" und "Die
‚kulturelle' Sexualmoral und die moderne Nervosität"
auf dieses Verdrängen ein. (Wohlgemerkt: Wir zitieren
hier Freud nicht als Analytiker, sondern als
Zeitzeugen.) Freud legt in diesen beiden Aufsätzen
dar, dass das herrschende kulturelle System (das
bürgerliche) eine Sublimierung und Verdrängung
verschiedener natürlicher Triebe fordert -
insbesondere die Verdrängung des Sexualtriebs, dass
jedoch dieses Verdrängen dem "Glückszustand" des
einzelnen Individuums oft diametral entgegen steht -
ebenso wie häufig die Sexualmoral der bürgerlichen
Ehe. Freud dazu wörtlich: "Das Heilmittel gegen die
aus der Ehe entspringende Nervosität wäre vielmehr
die eheliche Untreue". Dieses Heilmittel sieht ein
Grossteil der jungen Künstlergeneration eben auch in
der Figur der Dirne verkörpert.
Auch Richard Hamann erkennt die wesentliche Ursache
für den Dirnenkult gegen Ende des 19. Jahrhunderts in
der Reaktion auf die verklemmte bürgerliche
Doppelmoral: "Auf naturalistischer Seite begegnet man
dieser Doppelmoral mit einer Dirnenpoesie, die sich
mit revolutionärer Deutlichkeit gegen die ‚ehrbaren'
Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft richtet.
[...] In Wirklichkeit ist es ein Dirnenkult, der
alles Erotische in das Getriebe der rein
physiologischen Vorgänge zerrt."
Die Dirne bietet, wie wir hier gezeigt haben,
vielschichtige Möglichkeiten gegen bürgerliche Moral
vorzugehen, aber auch bürgerliche Ängste
herauszufordern und nicht zuletzt durch die offen
dargestellte und zur Schau getragene Erotik zu
schockieren und die Verklemmtheit des Bürgertums
herauszufordern. Darüber hinaus erscheint die Dirne -
der negative Pol des bürgerlichen dualen
Weiblichkeitsbilds - der jungen Künstler-Generation
als die interessantere Figur, weil sie im Gegensatz
zur bürgerlichen Frau eigenes Handeln zeigt, eigene
Entscheidungen trifft und damit eine eigene
Geschichte bekommt, während die Geschichte der
bürgerlichen Ehefrau immer in Verbindung mit ihrem
Ehemann steht. Diesbezüglich stellte besonders Ibsens
"Nora", die als erste bürgerliche Ehefrau "handelt"
und ihren Ehemann auf der Bühne aus eigener
Entscheidung verlässt, eine Revolution dar. Genau so
wie in Literatur und Kunst tritt die Dirne im letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts als Figur in Lieder und
Chansons der literarischen Kabaretts ein - wo sie bis
in die 20er Jahre des neuen Jahrhunderts die am
häufigsten anzutreffende weibliche Figur bleibt.
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